In der Unendlichen Geschichte gibt es viele Bezüge auf verschiedene Epochen und Kulturen. Denn schließlich ist Phantásien, das grenzenlose Reich der Phantasie, aus den Vorstellungen und Träumen aller Menschen geschaffen. So ist es kein Wunder, dass uns der eine oder andere Bewohner dieser Welt durchaus bekannt vorkommen mag.
Antike. Die antike Sagenwelt stellt verschiedene Bewohner Phantásiens: Das Südliche Orakel gibt Ratschläge wie das antike Orakel von Delphi. Darauf verweist auch die Allee aus steinernen Säulen, die an griechische Architektur erinnern. Der Eingang wird von Sphingen bewacht, die ebenfalls aus der antiken Mythologie stammen: In der Ödipus-Sage sitzt ein Sphinx an der Straße nach Theben und stellt jedem Passanten ein unlösbares Rätsel. Nur wer es löst, darf passieren – wem dies nicht gelingt, der wird verschlungen. Ödipus löst das Rätsel und befreit die Stadt von der Plage. Atréju bekommt keine Rätsel gestellt, dafür ist die Frage, wen die Sphingen vorbei lassen, selbst ein Rätsel. Und nicht umsonst heißt das Sphingentor auch „Rätsel-Tor“. Dass der Blick eines Sphinx versteinert, ist zwar von den antiken Sphingen nicht überliefert, doch kennt die Antike den versteinernden Blick der Medusa.
Auch die Zentauren (wie Caíron) und Sirenen stammen aus der Sagenwelt der Antike, ebenso wie der Pegasus, das geflügelte Pferd. Das Gnomenpaar Engywuck und Urgl trägt Züge von Philemon und Baukis, dem alten gastfreundlichen Paar aus der griechischen Sage.
Gern greift Ende auf die Odyssee zurück: Wie Odysseus dem Zyklopen Polyphem seinen wahren Namen verschweigt und sich „Niemand“ nennt, sagt auch Atréju Gmork nicht, wer er ist: „Ich bin niemand“ antwortet Atréju auf Gmorks Frage. Und der Wolf erwidert: „Dann hat Niemand mich gehört, und Niemand ist zu mir gekommen, und Niemand redet mit mir in meiner letzten Stunde.“ Ende hat diese Bezüge auf die großen Werke der Weltliteratur selbst betont.
Auch der Wettkampf im Bogenschießen in der Silberstadt Amargánth erinnert an die Odyssee: Als Odysseus nach seiner Irrfahrt nach Hause zurückkehrt und seine Frau vor einer Schar heiratswilliger Verehrer erlöst, muß er diese zuerst in einem Wettkampf mit dem Bogen überwinden.
Xayíde trägt Züge der Zauberin Kirke aus der Odyssee, und auch Bastians Besuch im Bergwerk der Bilder erinnert an Odysseus’ Fahrt in die Unterwelt, wo er das Bild seiner Mutter sieht (Bastian sieht das seines Vaters).
Phantásien ist also nicht nur aus der Phantasie eines Einzelnen geschaffen. Jeder Traum, der geträumt wird, schafft ein Stück davon.
Mittelalter und Heldendichtung. Das Ritterturnier in Amargánth dürfte die offensichtlichste Anspielung auf das Mittelalter sein: Held Hynreck ist ein Ritter wie aus dem Bilderbuch. Seine Liebe zur Prinzessin Oglamár und deren Ende, nachdem er sie aus der Gewalt des Drachen Smärg befreit hat, erinnert an Schillers Ballade „Der Handschuh“: Dort gibt die Angebetete ihrem Verehrer den Auftrag, ihren Handschuh aus einem Zwinger voll wilder Bestien wiederzuholen. Als der Held zurückkehrt und sie ihn mit zärtlichen Blicken empfängt, wirft er ihr den Handschuh mit den Worten „Den Dank, Dame, begehr ich nicht!“ ins Gesicht und verläßt sie.
Atréju wird in der Unendlichen Geschichte als Held nach mittelalterlichem Vorbild eingeführt: Er ist wegen seiner ganz besonderen Eigenschaften auserwählt und wird auf eine Suche geschickt. So formuliert es Caíron, als er zu den Grünhäuten aufbricht. Für C.G. Jung zählt der Held, der sein Volk rettet und, bisweilen mit Hilfe magischer Mittel, Ungeheuer besiegt, zu den Archetypen. Wie viele Helden verfällt auch Bastian kurzfristig dem Hochmut und muss bestraft werden, ehe er zurück aus Phantásien findet. Auch der berühmte Phantásienreisende Tolkien und viele andere haben auf diesen Archetyp zurückgegriffen.
Atréju, der Held der großen Queste, trägt Züge des mittelalterlichen Perceval (Parzival), und auch im Zauberschwert Sikánda finden wir ein mittelalterliches Vorbild: Das bekannteste Zauberschwert dürfte wohl König Artus’ Excalibur sein. Doch auch andere Heldengestalten des Mittelalters haben besondere, mit Namen benannte Schwerter, wie etwa der Cid aus dem spanischen Heldenlied oder Siegfried im Nibelungenlied. Auf König Artus’ Tafelrunde spielt die Held-Hynreck-Episode an. Auch in Tolkiens Kleinem Hobbit haben Waffen, insbesondere Schwerter, Namen.
Romantik. Michael Ende äußerte sich hierzu wie folgt: „Ich bin der Meinung, dass die Romantik die bisher einzig original deutsche Kulturleistung war. Alles andere haben wir in Deutschland mehr oder weniger aus dem Ausland übernommen. In der Romantik ist zum erstenmal etwas gelungen, was auch das Ausland interessiert hat. Deswegen habe ich versucht, dort anzuknüpfen, weil ich mich durchaus als deutscher Autor verstehe und weil ich der Überzeugung bin, dass diese Stimme, die eben typisch deutsch ist, nicht im Konzert der Nationen untergehen sollte.“
Michael Ende sah in der Romantik eine Befreiung des Individuums vom rein kausallogischen Denken. In der Betonung der Innenwelt, des Phantastischen, wie es in der Romantik geschieht, fand er seine eigene Zeitkritik bestätigt. Die Gegenwart kranke an einem Übermaß an kausallogischem und quantifizierendem Denken. Nur was nützlich sei, sei auch gut. Aber was bedeutet Nützlichkeit vor dem gewaltigen Hintergrund der Geschichte? Die Odyssee, der Faust, der David von Michelangelo oder die Pyramiden sind nicht wirklich nützlich. Aber was wäre die Menschheit ohne sie? Wie die Romantiker sah er die Anfänge dieser Krise im 16. Jahrhundert begründet.
Das Spiegeltor verweist auf die Romantik, in der das Spiegelmotiv besonders beliebt war (E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla). Die blaue Glockenblume, die nahe dem Elfenbeinturm wächst und in der der Phönix nistet, verweist auf die berühmte blaue Blume in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen.
Die körperlose Stimme der Uyulála verweist auf die romantische Vorstellung von der Naturpoesie: Schon bei Goethe und Herder findet sich der Gedanke, Dichtung sei allen Völkern gleichermaßen gegeben und uralte Gabe der Menschheit.
Sowohl in E.T.A. Hoffmanns Goldenem Topf, als auch in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen gibt es ein Phantasiereich namens Atlantis. Bei Novalis ist Atlantis ein Land, in dem Musik und Dichtung herrschen: ein romantisches Phantásien. Anders als bei Hoffmann und Ende lebt Novalis’ Held Heinrich aber in einer Welt, in der das Reich der Phantasie geachtet und anerkannt wird. Nie stößt er deshalb auf Unverständnis.
Hoffmann hingegen nimmt bereits die zentrale Aussage der Unendlichen Geschichte voraus: Sowohl ein einseitiges Bestehen auf der bloßen Außenwelt, als auch die Flucht in die Phantasie sind der falsche Weg.
Der weise Alte, bei Ende in der Person des blinden Bergmanns Yor, erscheint ebenfalls auch in der Romantik. Er verkörpert nach Jung’scher Schule den Archetyp des wissenden Zauberers, der für das tiefere Wissen um sich selbst und die Inhalte des Unbewussten steht. Yor und die Grube Minroud, in der die vergessenen Träume der Menschen die Grundfesten Phantásiens bilden, verweisen auf die Phantastische Kunst, wie sie auch Michael Endes Vater Edgar verkörperte. Die Bilder, welche Bastian dort findet, werden zum Teil nach wirklich existierenden Vorbildern beschrieben: Zum Beispiel findet Bastian eines, das lauter zerfließende Uhren zeigt wie das berühmte Gemälde von Salvador Dalì.
Fernöstliche Philosophie und Religion. Das Ohne-Schlüssel-Tor ist ein Motiv aus der fernöstlichen Mythologie. Die Absichtslosigkeit, jeden Willen von sich zu lassen, ist das Ziel der Meditation. Auch die Drachen als Mittler zwischen Himmel und Erde haben ein chinesisches Vorbild. Am deutlichsten sind sie in der Person von Fuchur verkörpert, dem Glücksdrachen. In Asien gelten Drachen als Symbol des Glücks und werden deshalb auch nicht, wie bei europäischen Sagen üblich, von Helden erschlagen.
Das wichtigste fernöstliche Motiv in der Unendlichen Geschichte ist allerdings das Mandala, das in Form des Labyrinths und des Elfenbeinturms auftaucht und in dessen Zentrum wie eine fernöstliche Götterfigur die Kindliche Kaiserin sitzt.
Der Gedanke, dass Gegensätze einander bedingen, symbolisiert durch die beiden Schlangen, die sich in den Schwanz beißen, ist so alt wie die chinesische Philosophie selbst. Besonders für Laotse, den Denker des Taoismus, ist dieser Gedanke bedeutsam. In der Vereinigung der Gegensätze, also auch von Gut und Böse, unterscheidet sich das chinesische Denken stark vom christlichen. Deshalb unterscheidet auch die Kindliche Kaiserin nicht zwischen guten und bösen Phantásiern.
Der zyklische Charakter der taoistischen Weltanschauung zeigt sich auch in dem Gegensatzpaar Perelín – Goab, deren Leben und Sterben einander bedingen. Dieser Gedanke liegt auch Phantásien insgesamt zugrunde: Die Kindliche Kaiserin war ja nicht zum ersten Mal krank: Mit ihr geht Phantásien unter und entsteht wieder neu – deshalb darf auch der Phönix als Bewohner nicht fehlen. Im hinduistischen Kontext heißt dieser Kreislauf samsara.