Hinter dem Nebelmeer, und nur mit den Binsenbooten der Yskalnari zu erreichen, liegt ein Rosenhain. Eine schnurgerade Allee aus dicken Bäumen voll roter, praller Äpfel führt geradewegs zum Änderhaus. Es gehört wohl zu den drolligsten Gebäuden Phantásiens. Ein hohes, spitzes Dach sitzt wie eine Zipfelmütze auf einem Gebäude, das eher einem Riesenkürbis gleicht: Es ist kugelig, und die Wände haben an vielen Stellen Beulen und Ausbuchtungen wie dicke Bäuche. Das verleiht dem Haus ein behäbiges und gemütliches Aussehen. In den Wänden des Hauses sind auch einige Fenster und eine Haustür zu sehen, alles jedoch irgendwie schief und krumm, als seien diese Öffnungen ein wenig ungeschickt in den Kürbis hinein geschnitten. Ein Besucher, der sich dem Haus nähert, wird das merkwürdige Gefühl nicht los, als würde es sich stets ganz langsam verändern. Mit der gleichen Geruhsamkeit, mit der eine Schnecke ihre Fühler vor sich herschiebt, bildet sich hie und da ein kleiner Auswuchs, der sich zu einem Erkerchen, Türmchen oder neuem Fensterchen entwickelt. Intensiven Studien zufolge kommt man zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem Änderhaus um ein Lebewesen handelt. Es scheint einen höchst eigenwilligen Charakter zu besitzen.
Die wohl merkwürdigste Eigenschaft des Änderhauses beruht auf der Tatsache, dass es von Innen größer ist als von Außen. Tatsächlich findet man – je nach Lust und Laune des Hauses – kleine Kammern, mittelgroße Räume bis hin zu gigantischen Sälen, die eigentlich gar nicht in das kleine Haus zu passen scheinen. Aus diesem Grund muss die Bewohnerin des Änderhaus, die Blumenfrau Aiuóla, jeden Tag bis zu viermal umziehen, da sich das Haus stets verändert. Es versteht sich von selbst, dass es keinen Grundriss des Hauses gibt, da dieser sich mit jedem Moment als veraltet herausstellen könnte. Sicherlich gehört es zu den friedfertigsten Bewohnern Phantàsiens. Selbst einen seltsamen Sinn von Humor scheint das Haus zu besitzen, spielt es doch hin- und wieder seiner Bewohnerin harmlose Streiche, indem es plötzlich Türen und ganze Räume verschwinden lässt.
Über die Nahrungsaufnahme des Hauses herrscht eine kontroverse Diskussion unter den Forschern Phantàsiens. Die eine Partei geht davon aus, dass das Änderhaus ein Symbiose mit seinen Bewohnern eingeht, also eine Wechselwirkung zwischen Bewohner und sich selbst benötigt, um zu überleben: Folglich scheint es den Forschern als plausibel, dass sich das Änderhaus einfach von der Tatsache „bewohnt zu sein“ ernährt. Dafür stellt es großzügig und dankbar seine gigantische Wohnfläche den Bewohnern bereit. Die andere Theorie über die Nahrungsaufnahme geht davon aus, dass sich das Änderhaus durch die bloße Tatsache ernährt, dass es sich verändert. Der berühmte Phantásienforscher Engywuck bezweifelt diese Theorie jedoch. Die Tatsache, dass in Phantàsien nach Abreise Bastians eine zweite Gattung von Änderhäusern entdeckt wurde, deren Gesinnung böser und heimtückischer Natur ist – wohl am ehesten mit einer fleischfressenden Pflanze zu vergleichen – widerspricht der letzteren Theorie vollständig. Diese „dunklen“ Änderhäuser locken Unterschlupf suchende Wanderer an, gaukeln ihnen einen idyllischen Schlafplatz mit gedeckten Tischen und frischbezogenen Betten vor. Doch sobald die ahnungslosen Reisenden in ihren Betten eingeschlafen sind, verändert sich das Innere des Hauses derart, das kein Ausgang mehr für die erwachten Wanderer zu finden ist. Diese sind dann auf Lebtag Gefangene des Hauses, und das Haus ernährt sich von der Tatsache, von den armen gefangenen Seelen „bewohnt zu werden“. Berichten von Reisenden zu folge soll es auch schon einige Symbiosen zwischen „dunklen“ Änderhäusern und Hexen gegeben zu haben.
Über geheimnisvolle Häuser, in denen die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen, hat Michael Ende eine Reihe von Erzählungen geschrieben: Das Haus an der Peripherie, Max Muto, Der Korridor des Borromäus Colmi. Seine Beschreibung des Änderhauses ist von der Anthroposophie inspiriert, zu der Ende eine starke, wenn auch nicht immer spannungsfreie Beziehung hatte. Auch hier sollen Symmetrie und vor allem rechte Winkel vermieden werden. Außerdem lehnt es sich an den Surrealismus an. Will man heute in der Realität Häuser sehen, welche den Änderhäusern gleichen, so kann man dies wohl am ehesten in der modernen phantastischen Kunst, etwa bei Friedrich Hundertwasser.