Michael Endes Welt
Mehr als in jedem Werk zuvor hat sich Michael Ende in der Unendlichen Geschichte jenes Umgangs mit Kunst und Kreativität bedient, die er als Kind von seinem Vater erlebt und erlernt hatte: Um Ideen für seine Schöpfungen aufzuspüren, begab sich Edgar Ende, ein Maler, der dem Surrealismus zwar nahestand, sich jedoch in keine scharf umrissene Kategorie zwängen ließ, in die völlige Finsternis eines abgedunkelten Ateliers, wo er mit sich alleine still saß und auf die Visionen wartete, die sich einstellen mochten. Auf diese Weise weckte er Bilder, Erinnerungen und Ahnungen, die tief in ihm verschüttet ruhten, griff Splitter und Funken auf, ohne sie ihrer Geheimnisse zu berauben, und stellte sie in einen neuen Kontext.
Nicht anders ging Michael Ende vor, als er an seinem stillen Schreibtisch hinter dem von einer Zaubergestalt bewohnten Olivenbaum die Unendliche Geschichte schrieb.
Zwangsläufig sind viele dieser in der Finsternis wiederentdeckten Motive dunkel, beklemmend, oft alptraumhaft und von dämonischen Zügen geprägt: Michael Ende wuchs in einer Welt auf, die sich selbst in nie gekannter Raserei zerschlug, die ihre Werte in einer gewaltigen Trümmerwüste unterpflügte und schließlich samt ihrer kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften in Flammen aufging. Als das Reich des Grauens, das tausend Jahre während sollte, sein ruhmloses Ende nahm, stand er an der Schwelle zum Erwachsenenleben und fand sich in einer Art Nichts wieder, einem inhaltslosen Vakuum, in dem sich sämtliche überlieferte Wertvorstellungen als betrügerisch erwiesen hatten. Umso dringlicher erschien es Ende, dieses Vakuum mit einer neuen Sinnhaftigkeit aufzufüllen, einem ausgehöhlten Lebensraum wieder Gehalt zu verleihen. Anders als sein Vater ließ er das Dunkel nicht schwarz und ausweglos stehen, sondern gab seinen Figuren – und damit uns als seinen Lesern – Möglichkeiten an die Hand, sich daraus hervor zu kämpfen und zu befreien. Vor allem ermutigte er sie, ohne den Zeigefinger zu erheben oder Predigten zu halten, an solche Möglichkeiten und Auswege zu glauben. Michael Ende ist kein Autor, der Heilsversprechen bietet und bedenkenlos behauptet, alle Geschichten gingen gut aus. Aber er zeigt uns auf, dass es sich lohnt, um einen guten Ausgang zu kämpfen, an Werten wie Freundschaft, Treue, Würde, Anstand und Courage festzuhalten und nicht zu verraten, was uns ausmacht.
Das Nichts verschlingt uns nicht, wenn wir nicht aufhören, den Dingen um uns neue Namen zu geben, und diese Aufgabe kam aus Michael Endes Sicht der Kunst zu: die Wiederverzauberung einer Welt, die sich bis auf ihre Grundfesten entleert hatte, die Suche nach Inhalten, die uns in der Dunkelheit Licht geben und uns beim Überleben helfen.
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