Momo und die Zeit
Warum ist Michael Endes Märchenroman seit seinem Erscheinen 1973 noch immer brennend aktuell?
„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis“, schreibt Michael Ende in seinem Roman, den er als „Märchenroman“ auswies und für den er eine belehrende Mission bewusst ablehnte. „Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.“
Seit seinem Erscheinen am 1. September 1973 haben mehr als zwölf Millionen Menschen in aller Welt diesen Roman gelesen. Momo wurde mehrfach verfilmt, für Theater, Musical und Hörspiel adaptiert, und ihr Siegeszug reißt nicht ab. Anlässlich des fünfundvierzigjährigen Jubiläums im Jahr 2018 widmete die US-amerikanische Zeitschrift The Atlantic Monthly der erstaunlichen Aktualität von Michael Endes Werk, welches einst als belanglose Kindergeschichte abgetan wurde, einen Artikel, in dem nach den Gründen für diese Aktualität gefragt wurde: Was macht Momos ungebrochene Anziehungskraft aus?
Lucas Zwirner, der Übersetzer der amerikanischen Ausgabe von 2013, übersetzte den Roman ohne Auftrag, schlicht weil er zu dem Schluss kam, Momo sei „ein Buch für unsere Zeit“. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie viele Menschen an den Anforderungen der Arbeitswelt in einem Burn-Out scheitern, wie überladen unsere Terminkalender sich bereits im Kindesalter gestalten, wie nahezu unmöglich es wird, unprofitable, zeitkonsumierende Elemente wie die Pflege von alten oder kranken Angehörigen in modernen Lebensläufen unterzubringen, wundert uns diese Feststellung nicht. Wir optimieren unsere Zeitausnutzung beständig, fühlen uns seltsam unausgelastet, wenn wir nicht über Smartphones und Tablets mehrere Kommunikationsverläufe zugleich verfolgen, und lernen den Nutzen von Konzentration und Langsamkeit nicht mehr durch eigenes Erleben kennen. Dass der Wert von Zeit darin besteht, sie zu genießen, da sie sich ohnehin nicht aufsparen und mehren lässt, ist eine heilsame Erfahrung, auf die Momo uns zurückführen kann. So lautet auch Lucas’ Zwirners Erklärung: Für ihn geht es im Kern der Geschichte um unsere Besessenheit von Geld und Technologie, die unserem Leben den Inhalt rauben.
Daran lässt sich nicht rütteln.
Aber Momo ist mehr.
Die zeitlose Attraktivität von Endes Roman wurzelt wesentlich auch darin, dass er sich nicht auf eine Deutung festlegen, in nur eine Dimension zwingen lässt, sondern, wie der Artikel des Atlantic betont, „offen für Interpretationen“ ist. Er ist als Kapitalismuskritik gelesen worden, als Parabel auf unser in die Jahre gekommenes Geldsystem, und mag von künftigen Generationen aus wiederum neuer Perspektive und mit neuen Ergebnissen gelesen werden. Das ist kein Zeichen von Beliebigkeit, sondern eines von Komplexität, Erkennungsmerkmal eines Werks, das dem Facettenreichtum menschlicher Existenz genüge tut. So nennt der Artikel des Atlantic als das womöglich größte Geschenk, das Michael Ende mit Momo seinen Lesern macht, die Ermutigung, sich der Unvorhersehbarkeit des Menschenlebens zu stellen, weil darin seine Schönheit liegt und wir auf diesem Weg von Kindern zu Erwachsenen werden.
Momo ist ein Kind, aber eines, das allein steht, allein kämpft, auf die Hilfe von Erwachsenen nicht angewiesen ist. Damit erinnert sie uns an die besonderen Fähigkeiten, über die Kinder verfügen und auf die sich zu besinnen einen anderen Ansatz zur Problemlösung eröffnen kann. Momo selbst wird erwachsen, indem sie Einsamkeit, Verlust, Furcht und Schmerz durchlebt. Sie erinnert uns damit, dass diese Erfahrungen zu uns gehören und von uns angenommen werden müssen wie die Freuden des Lebens. Aber auch daran, dass wir dem gewachsen sind.