Die Entstehung des Romans
Der Anfang der Geschichte, die als „die Unendliche“ in die Literaturwelt eingehen sollte, bestand aus einem schmalen Papierschnipsel und einem Glas süffigem italienischen Weißwein. Letzteres hatte Michael Ende mit seinem Verleger Hansjörg Weitbrecht geleert, als dieser ihn in seiner paradiesisch gelegenen Casa Liocorno in Genzano bei Rom besuchte, um seinen widerwilligen Autor mit sanftem Druck zur Arbeit an einem neuen Buch zu bewegen. Nach ‚Momo’ war es still um Michael Ende geworden. Er gehörte nicht zu den Schriftstellern, die sich Geschichten abzwingen, sondern zu denen, die die Geduld aufbringen, auf sie zu warten. Sprang ihn ein Gedanke an, der womöglich irgendwann als Funke oder Mosaikstein zu einem neuen Buch taugte, so notierte er ihn auf dem nächstbesten Zettel und stopfte diesen anschließend in einen Schuhkarton.
Ein solcher Zettel mit einer Notiz bildete auch den Anfang der ‚Unendlichen Geschichte’.
Hansjörg Weitbrecht fischte den bewussten Zettel nach dem Zufallsprinzip aus dem Karton. „Ein Junge gerät beim Lesen einer Geschichte buchstäblich in die Geschichte hinein und findet nur schwer wieder heraus“, stand darauf.
„Das gefällt mir“, bekundete der Verleger. „Warum probieren wir es nicht damit?“
Michael Ende hingegen war nicht überzeugt. Er bezweifelte, dass in der Idee mehr als eine kleine Erzählung von hundert Seiten steckte.
Seinen Verleger konnte er damit jedoch nicht schrecken. Im Gegenteil. Hansjörg Weitbrecht gefiel die Aussicht, den Lesern einmal ein kürzeres Werk von Michael Ende anbieten zu können, nicht schlecht, und außerdem war er froh, diesmal nicht wie gewöhnlich eine kleine Ewigkeit auf das Manuskript warten zu müssen.
Es war Sommer, und Michael Ende setzte sich an seinen Schreibtisch hinter dem Olivenbaum und begann zu schreiben. Bis Weihnachten wollte er fertig sein, doch wenn sein Verleger hoffte, recht bald den versprochenen Text von ihm zu erhalten, so hatte er sich getäuscht. Erst im Herbst bekannte der Autor auf wiederholtes Nachfragen, dass der Stoff sich unter seinen Händen anders als gedacht entwickelte, ja dass er regelrecht explodierte. Der Roman werde länger werden als geplant und der Erscheinungstermin müsse verschoben werden. Der Verlag setzte ein neues Datum fest, doch auch dieses konnte Michael Ende nicht halten: Seine ‚Unendliche Geschichte’ umfasste bereits mehrere hundert Seiten, aber Bastian, der zum Buchhelden mutierte Bücherwurm, weigerte sich noch immer hartnäckig, die Wunderwelt Phantásiens zu verlassen. Der Winter war eisig, in Michael Endes Haus in den Hügeln fiel die Heizung aus, und in Decken gehüllt rang der verzweifelte Autor um seinen Roman. Eine einfache Lösung, einen Deus ex macchina wie in der griechischen Tragödie, vermochte er ihm nicht überzustülpen, alles in ihm wehrte sich dagegen, seine Erzählung zu zwingen, zu einem hübschen Schlusssprung anzusetzen und wie eine Katze auf ihren vier Füßen zu landen. Stattdessen wartete er, bis die Geschichte selbst ihm ihr Rätsel auflöste, bis sich der Weg aus ihr heraus in ihr selbst fand. Als es schließlich so weit war, hielt er ein Buch in Händen, das ihm zu Recht als Zauberbuch erschien. Unter den Augen von Millionen von Lesern begann es seine Magie zu entfalten, die bis heute ungebrochen ist. Seit nunmehr vierzig Jahren weckt es in uns verschüttete Kräfte und Sehnsüchte, verwandelt sich immer wieder neu und enthüllt uns Türen und Wege, solange wir uns ihm nicht verschließen, sondern für seine Unerschöpflichkeit offenbleiben.
Illustration: Amargant, Zeichnung von Michael Ende mit freundlicher Genehmigung des Nachlasses