Die Wasser des Lebens sind der Ort, aus dem alle Wünsche kommen und von dem auch die Kindliche Kaiserin ihre gesamte Kraft bezieht. Sie stellen das Herz Phantásiens dar und befinden sich innerhalb von Auryn. Das Innere des Amuletts gleicht einer Kuppelhalle, groß wie das Himmelsgewölbe. Die Quader dieses gigantischen Bauwerks sind aus goldenem Licht. Mitten in diesem grenzenlosen Raum liegen riesig wie Stadtmauern die beiden Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen. Die reglosen Riesenleiber glänzen wie Metall, nachtschwarz die eine, silberweiß die andere. Und das Verderben, das sie hervorrufen könnten, ist nur gebannt, weil sie sich gegenseitig gefangen halten. Wenn sie sich losließen, das ist gewiss, würde die Welt untergehen. Aber indem sie sich gegenseitig fesseln, hüten sie die Wasser des Lebens: Denn in der Mitte, um die sie liegen, rauscht ein mächtiger Springquell, dessen Strahl auf und nieder tanzt und im Fallen Tausende von Formen bildet und wieder auflöst, viel schneller als das Auge zu folgen vermag. Die schäumenden Wasser zerstauben zu feinem Nebel, in dem das goldene Licht sich in allen Regenbogenfarben bricht. Es ist ein Brausen und Jubeln und Singen und Jauchzen und Lachen und Rufen mit tausend Stimmen der Freude.
Nur wer noch eine allerletzte Erinnerung an seine Welt hat, kann die Wasser des Lebens betreten. Sie sind das einzige Tor, durch das ein Menschenwesen Phantásien wieder verlassen kann, um in seine Welt zurückzukehren. Jedes Wesen, selbst, wenn es ein Phantásier ist, der einmal auch für noch so kurze Zeit Auryn getragen hat, kann die Wasser des Lebens betreten. Allein die Kindliche Kaiserin hat keinen Zutritt zum Wasser des Lebens, denn er befindet sich im Inneren von Auryn. Um hineinzugelangen muss man Auryn ablegen – und sie, so sagen die Wasser, kann sich selbst nicht ablegen. Dieser rätselhafte Ausspruch hat die Phantásienforscher sehr beschäftigt und eine Vielzahl von Theorien hervorgebracht. Eine davon ist die, dass die Kindliche Kaiserin selbst Auryn ist.
Atréju und Fuchur werden von der Kindlichen Kaiserin dorthin gebracht, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt und Bastian nach Phantásien gebracht haben.
Auch Bastian gelangt nach seiner Odyssee durch Phantásien an diesen rätselhaften Ort, um in die Menschenwelt zurückzukehren. Alles, was ihm in Phantásien geschenkt wurde, muss er dabei zurücklassen: Als er durch das erste der beiden Tore geht, das die Schlangenleiber bilden, wird er wieder der kleine dicke Junge, der er früher war. Aber als er vom Wasser des Lebens trinkt, will er auch gar nichts anderes mehr sein: Er weiß nun wieder, wer er ist und in welche Welt er gehört. Dieser Prozess erinnert an die C.G. Jung’sche Individualisierung, die auf dem Begreifen der wahren Wünsche beruht. Allerdings darf Bastian Phantásien nur durch das zweite Schlangentor verlassen, wenn er alle Geschichten zu Ende gebracht hat, die er in Phantásien begonnen hat. Nur weil Atréju verspricht, sie für ihn zu Ende zu führen, kann er in seine Welt zurückkehren.
Das Wasser des Lebens liegt zwischen der schwarzen Schlange, deren Kopf auf der phantásischen Seite liegt, während der weiße Kopf auf der Menschenseite liegt. Es befindet sich also genau genommen zwischen den Welten, ein Umstand der die phantásischen Forscher immer sehr beschäftigt hat. Denn man kann Auryn in Phantásien mit sich herumtragen, in der Menschenwelt geht das aber, nach allem was Bastian Balthasar Bux erzählt, nicht. Gehört das Wasser des Lebens also mehr nach Phantásien als in die Menschenwelt?
Bastian Balthasar Bux selbst hat nach seiner Rückkehr aus Phantásien eine eigene Theorie entwickelt, die er bei seinen späteren Reisen Professor Engywuck mitteilte: Auch in der Menschenwelt kann man Auryn und damit das Wasser des Lebens mit sich herumtragen. Man sieht es nur nicht, denn es befindet sich im eigenen Herzen.
Das Wasser ist in vielen Kulturen ein Symbol des Lebens, oft steht es für kultische Reinheit: In der christlichen Taufe symbolisiert es die Aufnahme in die Gemeinschaft der Christen. Im Islam ist die Waschung Voraussetzung für das Gebet. Im Hinduismus ist das Bad in der heiligen Ganga ein Ritual, das Leben schenken und Sünden abwaschen soll.
In den Märchen der Brüder Grimm findet sich eines, in dem drei Brüder für ihren Vater das „Wasser des Lebens“ holen wollen. Anders als in der Unendlichen Geschichte steht das Bad in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen am Anfang, nicht am Ende der phantastischen Reise: Hier ist es Initiation. Für Bastian bedeutet das Bad eine Läuterung. Der Gedanke der Katharsis, der Reinigung, ist ursprünglich ein religiöser, der sich in vielen Kulturen findet: Durch das Waschen des Körpers soll auch die Seele rein für den Kult werden. Im antiken Griechenland bedeutet Katharsis aber vor allem die seelische Reinigung, die man durch Kunst erfährt, nämlich durch das Theater. Indem man alle Affekte auf der Bühne miterlebt, kann man befreit wieder zurück in den Alltag gehen.
Zugleich ist das Wasser aber auch der Ausgang aus Phantásien. Das Wasser des Lebens steht außerdem für die Freude, lieben zu können.
Warum finden sich ausgerechnet hier noch einmal die beiden Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen und die die enge Verbindung zwischen Phantásien und der Menschenwelt symbolisieren? Für Michael Ende stand fest, dass die Probleme der Außenwelt sich immer auch in der Innenwelt spiegeln. „Die Lösung der wirtschaftlichen Probleme ist aber letzten Endes ein Kulturproblem. Mit der Umweltzerstörung geht auch eine Innenweltzerstörung Hand in Hand, die genauso bedenklich ist.“ Eine Veränderung der Außenwelt beginnt für Ende immer mit der Veränderung der Innenwelt. Seine Figuren reisen auch in anderen Büchern in ihr eigenes Inneres: In Momo zeigt Meister Hora der kleinen Heldin die Stundenblumen in ihrem eigenen Herzen.