Michael Ende und die magischen Weltbilder

 
Edgar Ende, Porträt Michael Ende, 1951

In Stuttgart ist er weniger von der anthroposophischen Waldorf-Schule fasziniert als vielmehr von Literatur und Kunst. Zwar beschäftigt er sich von Jugend an intensiv mit Rudolf Steiner und seinen Werken, wie dies im übrigen auch seine Eltern tun, doch hat Peter Boccarius, ein enger Jugendfreund, Recht, wenn er in seiner Biographie Michael Ende - Der Anfang der Geschichte ausführt, es sei nicht nur die Steinersche Anthroposophie gewesen, die Michael Endes Weltsicht geprägt habe. Durch Edgar Endes Bibliothek inspiriert, kommt der Sohn in jungen Jahren mit okkulten Schriften in Kontakt. Als Hauptstadt des Okkultismus im frühen 20. Jahrhundert zog die bayerische Metropole im ersten Viertel des Jahrhunderts zahlreiche Vertreter der Lehre vom Übersinnlichen an. Genannt seien hier nur die Kosmiker um Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages. Fasziniert von der Möglichkeit, in künstlerischer Form mit den letzten Dingen zu korrespondieren, stürzt der junge Schüler sich in die Lektüre besagter Schriften. Aber nicht nur den Kosmikern schenkt er seine Aufmerksamkeit.

Michael Ende hat sich in der Tat ein Leben lang für alle philosophischen Systeme interessiert, denen ein magisches Weltbild zugrunde liegt: "Edgars Sohn suchte auch bei anderen Weisen und Esoterikern Erkenntnis, in des legendären Christian Rosenkreutz' Chymischer Hochzeit wie in des infernalischen Altmeisters Aleister Crowleys Manifesten, bei Indern und Ägyptern, beim Zen, in der Kabbala, bei Swedenborg, Eliphas Lévi, Sören Kierkegaard, Friedrich Weinreb. Doch er konnte keines Meisters Jünger werden; ins Netz einer geschlossenen Welt- und Jenseitsanschauung eingezwängt, wäre er erstickt. Für Michael gab es etwas, das ihm wichtiger erschien als das alles." Und das war die Kunst: "Was sie ist, wie man sie macht, was sie soll, kann, darf."

Für Michael Ende bieten alle diese philosophischen Systeme zur Welterklärung keine befriedigende Antwort über Sinn und Zweck von Kunst, geschweige ein Bild von dem, was sie sein sollte. "Darin liegt Steiners großer Irrtum", so schreibt er einmal, "was Kunst betrifft: Er glaubte, man könne Erkenntnisse künstlerisch gestalten. Das musste misslingen, und nicht nur, weil er nicht genügend Talent besaß, sondern vor allem, weil sein Verständnis von dem, was Kunst sein kann und soll, falsch war. Das geht vielen Erkenntnismenschen so."