Das künstlerische Schlüsselerlebnis
1956 unternimmt Michael Ende im Auftrag des Bayerischen Rundfunks gemeinsam mit dem Kameramann Bodo Blüthner eine Reise nach Süditalien, die mehrere Monate dauert. Unter anderem kommt er auch nach Palermo, wo er ein wichtiges Erlebnis hat. Eines Abends lauscht er auf dem großen Platz vor dem königlichen Schloss den Cantastorie genannten Geschichtenerzählern. Die Menschen sitzen um sie herum und hören gebannt den Erzählungen zu. Diese endlosen Versgeschichten werden auf sizilianisch vorgetragen, teilweise wie schon bei Homer skandiert und mit rhythmischen Holzschwertschlägen begleitet. "Ab und zu unterbricht sich der Geschichtenerzähler mitten im Satz und wartet, bis die Leute genügend Kleingeld vor ihm auf den Boden geworfen haben, und wenn es oft genug geklingelt hat, dann fährt er fort, und singt diese endlosen Heldengesänge von Orlando und Rinaldo, die ja noch immer die großen Nationalhelden Siziliens sind. Und dann gab es dort einen anderen, der saß auf einer Anlagenbank - die Männer und die Jungen ganz dicht um ihn herum [...] Ungeheuer eindrucksvoll erzählte er [...] irgendwie kam mir die Geschichte, die er da erzählte, entfernt bekannt vor."
Michael Ende erkundigt sich bei dem Mann nach der Geschichte und erfährt, dass dieser von seinem Großvater einen Roman von Alexandre Dumas geerbt, diesen gelesen und dann daraus seinen Beruf gemacht habe, indem er die Geschichte seitdem auf der Piazza von Palermo erzähle. "[...] das ist ein Ziel [...]: Dass hundert Jahre nach meinem Tod meine Geschichten in Palermo von Geschichtenerzählern auf der Straße erzählt werden können. Das können Sie mit dem Ulysses von James Joyce nicht machen. Aber [...] Alexandre Dumas ist eben ein Geschichtenerzähler. Und insofern [...] bin ich eigentlich kein Literat. Im Gegenteil, mich persönlich ärgern gewisse stilistische Koketterien bei Schriftstellern immer etwas."