Edgar Ende und seine Kunst
1935 zieht die Familie Ende vom Münchener Stadtteil Obermenzing nach München-Schwabing, in ein Atelier im 4. Stock der Kaulbachstraße 90. Das geräumige Atelier wird in zwei verschiedene Bereiche unterteilt: für Edgar Ende einen Arbeitsbereich und für die Familie ein Wohn- und Schlafzimmer, das statt der geschlossenen Decke über ein Glasdach verfügt. Michael Ende wächst also in einem Raum auf, der über keine Fenster verfügt und von dem aus nachts die Sterne zu sehen sind. Dass das "natürlich eine Signifikanz hatte", in einem solchen Raum aufzuwachsen, ist Michael Ende später klar geworden. Aufgrund der neuen politischen Verhältnisse verschlechtert sich allmählich die ökonomische Lage der Familie.
Michael Ende ist bewusst, wieviel er seinen Eltern und besonders seinem Vater verdankt, der ihn gründlich in viele Bereiche des Lebens eingeführt und ihm zu einer fundierten Kunstauffassung verholfen hat. Edgar Ende und seine Bilderwelt prägen den Sohn von frühester Kindheit an: Die künstlerische Welt, die ihn umgibt, stellt für den Heranwachsenden eine stärkere Wirklichkeit dar als die äußere Realität.
Michael Ende empfindet es als Glück, in eine Umgebung hineingeboren zu sein, in der künstlerische wie auch spirituelle Fragen wichtiger sind als die meist vorherrschende materielle Armut. Weder die Eltern noch der Sohn erkennen diese als ein Problem an. Viel wichtiger sind für sie die Bilder, die geschaffen werden, und darin sind sie sich mit ihren Freunden einig.Nicht ungewöhnlich ist der nächtliche Besuch eines Freundes, der kunstinteressierte Gesprächspartner sucht. So weckt etwa der Literaturhistoriker Friedhelm Kemp einmal die Familie, weil er "eben ein Gedicht gelesen" habe, das er unbedingt jemandem vorlesen will. "Dann sind wir alle aufgestanden, obwohl ich am nächsten Tag in die Schule mußte, und [...] haben im Atelier gesessen und [...] bis morgens um vier über dieses Gedicht geredet." Solche Erlebnisse prägen, vermitteln dem Kind das Gefühl, Kunst und deren Erlebnis sei wichtiger als alles andere.
Michael Ende wächst in der Schwabinger Bohème unter Malern, Bildhauern und Literaten auf. Sein Vater ist ein Mensch, der sich intensiv mit philosophischen und religiösen Fragen beschäftigt. Besonders setzt er sich mit den Alchimisten, den indischen Mythen und der Anthroposophie auseinander, was zu der Zeit nicht einfach ist, weil bei den Nazis verpönt. Über solche Themen diskutiert er leidenschaftlich stundenlang.
Wenn Edgar Ende sich in einer kreativen Phase befindet, herrscht in der Familie eine positive, lebendige Atmosphäre. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Michael Ende gern an diese Zeiten. Nach der Fertigstellung eines Bildes herrscht Hochstimmung: "Die Freunde, die kamen, haben das mitgefeiert. [...] oft saß man dann eben bis früh morgens vor dem Bild, und auch ich als Sieben- oder Achtjähriger war mit dabei und habe nur das Bild angesehen und mich daran erfreut. [...] Es gab keine Diskussionen über diese Bilder, es war eher eine Art des sich Hineinträumens in die Bilder: Erzählen, was einem dazu einfällt, zu dem Bild." Um seine Bildideen zu finden, verfügte Edgar Ende über eine eigene Technik, die seinen Sohn tief beeindruckt: Er verdunkelt sein Atelier, das niemand mehr betreten darf, und verbringt, sitzend oder auf einer Chaiselongue liegend, machmal 24 Stunden oder noch länger in seiner 'Dunkelkammer'. Dort wartet er schweigend auf innere Bilder. Hat sich schließlich sein Bewusstsein geleert, tauchen diese gestochen scharf auf, als starre, aber auch als bewegte Bilder. Mit einem eigens hierfür konstruierten Schreibgerät, einem Bleistift, an dem ein kleines Licht befestigt ist, skizziert Edgar Ende dann im Dunkeln seine Bildeinfälle, die er später - "falls sie ihr Geheimnis bewahren konnten", wie er sagt -, in Zeichnungen, Gouachen und schließlich Ölgemälden verwirklicht.
Zu seinem Vater hat Michael Ende ein sehr enges Verhältnis. Die beiden werden sich in späteren Jahren viel über die Gemälde des Vaters und vor allem auch über dessen Weltsicht unterhalten. Esoterische oder religiöse Fragen werden immer wieder erörtert. Den Vater erfüllt eine tiefe religiöse Ehrfurcht, nicht nur gegenüber Christus, sondern auch gegenüber den großen Gestalten anderer Religionen, wie etwa Buddha. Als der Sohn später Gedichte schreibt, nehmen Vater wie Mutter die literarischen Versuche ihres Sohnes sehr ernst. Edgar Ende liest sie öfter einmal voller Stolz Freunden vor. Michael Ende gehört zu den Schriftstellern, die schon früh von ihren Eltern "eine große Hilfe erfahren" haben.
1936 wird Edgar Ende von der Reichskulturkammer unter Berufsverbot gestellt. Seine Bilder gelten als 'entartete Kunst'. Heimlich arbeitet er weiter, darf aber keine Ausstellung mehr beschicken. Auch seine beginnenden Erfolge im Ausland werden unterbunden. Die Mutter lernt Heilgymnastik und Massage und ernährt damit in den folgenden Jahren die Familie. Die Zeit der Not beginnt. Immer wieder werden Freunde und Kollegen des Vaters, Juden und Nicht-Juden, abgeholt. Man hört von Konzentrationslagern. Michael Ende lernt als kleines Kind, Außenstehenden gegenüber über nichts von all dem, was er zu Hause hört, zu sprechen.