Fanti, der verrückte Märchenerzähler
Bei einem benachbarten "versoffenen Maler, einem sehr seltsamen und hochbegabten Menschen" , gerät Michael Ende zum ersten Mal in den Bann erfundener Geschichten. Fanti heißt der Mann, ein großartiger Geschichtenerzähler, an dem alle Kinder der Umgebung mit der größten Zuneigung und Bewunderung hängen. Er erzählt wilde Phantasiegeschichten, indem er einfach darauf los fabuliert. Dazu zeichnet er auch noch auf jedem greifbaren Fetzen Papier die wundervollsten Illustrationen. "Vielleicht ist mein Lukas", so sagt Michael Ende, "ein wenig in seinem Andenken entstanden." Die Märchenstunden mit Fanti stellen für Michael Ende Stunden voller Zauber und Spannung dar, die ihm unvergeßlich bleiben. Einige dieser Zeichnungen bewahrt er bis zu seinem Lebensende auf.
Über Fanti und den nachhaltigen Eindruck, den seine Geschichten auf ihn ausüben, erzählt Michael Ende in zahlreichen Interviews immer wieder: "Meine eigentliche Erziehung habe ich durch einen Nachbarn genossen, der ein vollkommen verrücktes Huhn war. Er war auch Maler. Sein ganzes Haus war bis zur Decke hinauf ausgemalt mit eigentümlichen Märchenbildern. Dieser Mann war Kommunist, schielte wie der Teufel, weil er sich in seiner Jugend aus Liebeskummer eine Kugel in die Schläfe geschossen hatte, und trug immer so eine Schlägermütze. Die Kinder der Umgebung hingen an ihm wie die Kletten, obwohl er nach heutigen antiautoritären Gesichtspunkten als der Inbegriff des Schlimmsten gegolten hätte. Wenn wir etwas angestellt hatten - zum Beispiel hatten wir einmal eine Trambahn entgleisen lassen -, schätzte er ohne große Emotionen ab, was das Verbrechen für eine Strafe verdiente, holte den Kochlöffel und versetzte uns eine genau abgezählte Menge von Schlägen, aber so, daß es weh tat. Wir haben gebrüllt vor Schmerzen. Trotzdem wären wir schwer beleidigt gewesen, wenn er uns nicht verhauen hätte. Wir haben diesen Mann einfach geliebt. Rückblickend kann man sagen, diese Zeit war die glücklichste meiner Kindheit."
In dieser Zeit erlebt Edgar Ende den Höhepunkt seiner kreativen Tätigkeit. Der Freistaat Bayern kauft einige Bilder, sein Name wird allmählich im In- und Ausland bekannt. Es kommt zu ersten Kontakten mit französischen Galerien und amerikanischen Kunstinstituten. In den Jahren, die die Familie Ende in der Floßmann-Villa verbringt - präzise läßt sich das nicht mehr datieren -, macht Michael Ende eine weitere Erfahrung, die für sein späteres Leben von Bedeutung sein wird: Im Nachbarhaus von Hildegard Buchner und ihren vier Kindern, in dem im übrigen auch der Maler Fanti wohnt, überwintert eine arme Zirkusfamilie, die nicht einmal über ein eigenes Zirkuszelt verfügt. Frau Buchner hat dem fahrenden Volk zur Freude der Kinder in ihrem Haus einen Unterschlupf für den Winter gewährt. Von den Artisten und Clowns lernen die Mädchen und Buben Zaubertricks und akrobatische Kunststücke und werden von ihnen in die Kunst des Schminkens und Verkleidens eingeführt. Auch bringen sie ihnen einfache, kleine Nummern bei, die die Kinder mit Begeisterung nachspielen. Viel später wird sich der Artist, der Gaukler, für Michael Ende zum Inbegriff des Künstlers entwickeln - der eben, wie der Seiltänzer oder der Zirkusclown, etwas vollbringt, was ohne Nutzen ist.