Momo, Rom und das neue Zeitgefühl

 
Blick in den Garten der Endes in Genzano - Momo ist Michael Endes Hommage an die "Ewige Stadt"
Ingeborg und Michael Endes Wahlheimat in Rom - Casa Liocorno
Michael und Ingeborg Ende in Genzano
Michael Endes eigenwillige Arbeitsweise gleicht einem Reifungsprozess - bei dem Zeit keine Rolle spielt
Die Illustrationen zu seinem Märchenroman "Momo" stammen von Michael Ende selbst.
Michael Ende, 1975

Seit dem Erscheinen von Jim Knopf befindet sich Michael Ende auf der Suche nach Möglichkeiten, jene Art von phantastischer Literatur zu schreiben, die ihm gemäß ist. Sein literarisches Bestreben ist es, eine in sich stimmende Bilderwelt zu entwickeln, die nicht unbedingt der äußeren Wirklichkeit entspricht, auch wenn sie von ihr handelt. Immer wieder unternimmt er in Erzählungen neue Versuche hierzu, immer wieder bricht er, unzufrieden damit, seine Arbeit daran ab. Er bemüht sich, aus der normalen Erzähllogik auszubrechen, sich von dem Rechtfertigungszwang der Kausallogik zu befreien, die immer einen Grund, eine Ursache für alles Geschehen braucht. Viele dieser Geschichten vollendet Michael Ende erst Jahre später in Der Spiegel im Spiegel.
Bereits vor seinem Umzug nach Rom im Jahre 1971 hatte Michael Ende mit den Entwürfen zu Momo angefangen. Die Hauptarbeit aber geschieht in der neuen Heimat und ist sicherlich stark von der römischen Kultur und Lebensweise beeinflusst. Insgesamt dauert die Arbeit an diesem Roman sechs Jahre, wobei er sie immer wieder unterbricht und sich anderen Stoffen zuwendet, häufig mehreren gleichzeitig.

Seine eigenwillige Arbeitsweise kann man als einen langsamen Reifungsprozess sehen, bei dem er seine Texte immer wieder hervorholt, sie durchliest, darüber nachdenkt und, falls ihm der Stoff noch nicht ganz klar ist, nochmals zur Seite legt. Gedichte können so durchaus über Jahrzehnte hinweg verändert werden, indem er gelegentlich eine Zeile hinzufügt. Wenn er sich nicht sicher ist, legt er beide Versionen zur Seite und wartet darauf, dass er zu einer späteren Zeit mit größerer Sicherheit zu entscheiden vermag, welche die richtige ist. Zu einem Roman schreibt er gelegentlich zwei oder drei Seiten, macht sich einige Notizen, dann lässt er die Geschichte noch weiter in sich gären - bis plötzlich der Knoten platzt.

Seine Beharrlichkeit führt ihn meistens zu einer Lösung, auch wenn er schon nahe daran ist, ein Projekt aufzugeben. Beispielsweise stellt sich Michael Ende ein ganz konkretes künstlerisches Problem, das er lösen muss, bevor er Momo schreiben kann: "Ich hatte fast alle einzelnen Szenen aus der Momo schon fertig. Ich hatte die Figuren, ich hatte auch schon einzelne Kapitel geschrieben, konnte das Buch aber sechs Jahre nicht fertigschreiben, weil mir eine einzige Regel noch fehlte.Die Frage hieß ganz einfach: 'Wenn die Zeitdiebe, die Grauen Herren, allen Menschen ihre Zeit stehlen können, warum können sie sie der Momo nicht stehlen?' Man kann sich nun natürlich helfen, und schlechte Schriftsteller tun das, indem man Momo einfach irgendeine charismatische Eigenschaft gibt, die das verhindert. Sie hat z.B. einen Lichtpanzer oder sonst irgendetwas. Damit bin ich aber nie zufrieden, sondern es muss eine ganz konkrete Spielregel sein, die in der Sache selbst liegt. Eines Morgens beim Frühstück sagte ich plötzlich zu meiner Frau: 'Jetzt hab' ich es!' Ganz einfach: Zeit stehlen kann man nur demjenigen, der Zeit spart, denn jemand, durch den die Zeit sozusagen immer hindurchfließt, der seine Zeit nicht festzuhalten versucht, der hat ja gar keine, die man ihm stehlen kann, da ist nichts zu stehlen. Damit war die Idee der Zeitsparkasse geboren, und auf einmal funktionierte die ganze Geschichte von vorn bis hinten."

Und wie ist er überhaupt auf die Grundidee zu diesem Märchenroman gekommen? Es bedarf immer nur eines Zufalls, manchmal einer Belanglosigkeit, die seine Phantasie in Gang setzt und ihn die phantastischsten, märchenhaftesten Fäden spinnen lässt.
In einem Interview stellt Michael Ende diesen Prozess mit einem eindrucksvollen Bild dar: "Wissen Sie, wie man Kandiszucker herstellt? In eine warme übersättigte Zuckerlösung hängt man Fäden; beim Abkühlen kristallisiert der Zucker an diesen Fäden aus. Genauso geht es mir beim Schreiben. Bei der Momo war es z.B. so: Ich sollte im Auftrag eines Fernsehsenders eine Story für einen etwa einstündigen Film entwerfen - aber mir wollte einfach nichts einfallen. Da schenkte mir eine Bekannte, ich weiß nicht mehr wieso, eines Tages eine alte Taschenuhr ohne Zeiger, die wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen war. Ich betrachtete sie eine Weile, und plötzlich stellten sich die ersten Ideen ein. Die kaputte Taschenuhr war der Faden in der Zuckerlösung. Allerdings dauerte es von da an noch sechs Jahre, bis das Buch wirklich fertig war. Einen solchen Faden brauche ich in jedem Fall: freilich ist es jedes Mal etwas völlig anderes: Ein Satz, den ich irgendwo lese; eine Schaufensterdekoration; eine merkwürdige Szene, die ich zufällig beobachte; ein Bild, ein Schuh - es kann alles sein. Da ich es nicht vorher weiß, überrascht es mich selbst."
Auch wenn die ersten Notizen zu Momo lange vor seinem Umzug nach Italien entstanden sind, ist Michael Ende sich sicher, dass er dieses Buch in Deutschland nicht so hätte schreiben können. "In diesem Sinne ist Momo mein Dank und mein Gruß an diese wunderbare Stadt und ihre liebenswürdigen Menschen." Wenn es um die Umsetzung seiner künstlerischen Vorstellungen geht, zeigt Michael Ende eine kompromisslose und kämpferische Seite.

Dies zeigt sich auch bei der Entstehung von Momo als Buch. Er schickt das Manuskript dem damaligen Verleger des K.Thienemanns Verlags, Richard Weitbrecht. Der allerdings meldet eine Reihe von Beanstandungen und Änderungswünschen an. Michael Ende aber lässt sich nicht überzeugen und fordert sein Manuskript zurück. Daraufhin schaltet sich Hansjörg Weitbrecht ein, der seine verlegerische Karriere gerade erst beginnt: Er fährt zu Michael Ende, trifft ihn in einem Café und - die Argumente des Autors leuchten ihm ein, er setzt sich dafür ein. Noch eine letzte Hürde ist aber zu überwinden: Nachdem sein Wunsch, Maurice Sendak solle die Momo illustrieren, vom Verlag nicht akzeptiert wird, fertigt Michael Ende selbst die Illustrationen für das Buch mit Tusche an. Anfangs sperrt sich der Verlag auch gegen diesen Plan. Erst als der Vorschlag unterbreitet wird, das ganze Werk durchgehend in Bild und Schrift in Sepia-Farbe zu drucken, ist der Verlag einverstanden. So kommt es, dass alle Zeichnungen wie auch der Schutzumschlag von Momo von Michael Ende selbst angefertigt sind. Auch wenn er seine Begabung als nicht so groß einschätzt, dass sie für professionelles Malen ausreicht, so zeichnet er doch gern und mit Vergnügen, ohne jeden Anspruch.